Interview von Andrea Tarantini

Industrie und Technologie sind verpflichtet, sich auf eine nachhaltige Zukunft vorzubereiten

Wie wird der MINT-Sektor in der Schweiz gestärkt? Vor welchen Herausforderungen steht er? Welche Stellung nehmen Frauen in diesem sich weiterentwickelnden Sektor ein? Im Interview beantwortet Anna Maria Blengino, Senior Director IT Strategy and Innovation bei der Sunrise GmbH, die drängendsten Fragen.

Anna Maria Blengino, Sie sind derzeit Senior Director IT Strategy and Innovation bei der Sunrise GmbH. Wie hat Ihre Karriere begonnen?

Anna Maria Blengino

Anna Maria Blengino

Ich habe mein Geotechnik-Studium an der polytechnischen Universität in Turin abgeschlossen. Danach war ich die ersten sechs Jahre meiner beruflichen Laufbahn im Bereich Bauwesen und Grossprojekte in Italien tätig. Ende der 90er-Jahre wuchs die Telekommunikationsbranche und lockte mit ihren Innovationen.

Meine Neugier zog mich schliesslich in diese Branche. Ich kam in die Schweiz und fing meine Karriere ganz bescheiden im technischen Support an. Innerhalb weniger Jahre bin ich in verschiedene Managementfunktionen im IT-Bereich eingestiegen.

Dadurch wurde ich mit den unterschiedlichen Anforderungen und Besonderheiten der IT vertraut. Zudem war ich einige Zeit im IT-Banking der UBS tätig und hatte die Möglichkeit, in einem internationalen Umfeld zu arbeiten. Seit Anfang letzten Jahres, nach der Übernahme von Sunrise durch Liberty Global und der anschliessenden Konsolidierung mit UPC, habe ich die Position des Senior Director IT Strategy and Innovation inne.

Welche Aufgaben müssen Sie erfüllen?

Ich bin für die langfristige strategische Planung der IT-Plattformen unseres Unternehmens zuständig. Aus technischer Sicht wissen wir, wo wir in einem Zeitrahmen von vier bis sechs Jahren sein wollen. Meine Aufgabe ist es daher, den Plan für die Umstrukturierung festzulegen, um unsere Ziele zu erreichen.

Jedes Jahr erstellen wir Prognosen, passen die Strategie an und setzen diese um, wobei wir stets die Innovationen der Branche weiter beobachten. Manchmal ist es auch wichtig, das Unternehmen zu «kitzeln»; wir schlagen neue, auf dem Markt entwickelten Ideen als Lösungen vor, die dann als Grundlage dienen, um unseren Kunden neue Dienstleistungen oder Produkte zu präsentieren.

Was gefällt Ihnen am meisten an Ihrer Arbeit?

Ich möchte die Ergebnisse meiner Arbeit sehen. Im Fall von Sunrise sind sie jeweils gut ersichtlich. Wenn ich beispielsweise in der Stadt unsere Werbeplakate mit dem Rebranding und neuen Produktangeboten sehe, bin ich sehr stolz darauf.

Es gibt grosses Potenzial, sowohl in der Anwendung als auch in der Schaffung von Studien- und Arbeitsplätzen.

Ich habe das Gefühl, dass sie meine Arbeit repräsentieren. Ich muss auch unsere Vorstandsmitglieder loben, denn sie sind stets offen für neue Ideen, Innovationen und Kreativität. Ein weiterer typischer Aspekt von Sunrise ist das internationale Umfeld. Obwohl es sich um ein Schweizer Unternehmen handelt, ist es sehr spezialisiert und erfordert Qualifikationen und Fähigkeiten, die nicht immer vor Ort rekrutiert werden können. Daher ist unser Mitarbeiterpool multikulturell.

Mit welchen drei Adjektiven würden Sie den MINT-Sektor in der Schweiz beschreiben?

Der MINT-Sektor in der Schweiz ist zweifellos innovativ und von hoher Qualität, aber gleichzeitig zu unattraktiv und nicht für alle zugänglich. Es könnte noch mehr unternommen werden, denn es gibt grosses Potenzial, sowohl in der Anwendung als auch in der Schaffung von Studien- und Arbeitsplätzen. 

Wie steht es um den MINT-Sektor in der Schweiz?

Generell scheint mir, dass der Sektor als «Work in Progress» bezeichnet werden kann. Die einzelnen Unternehmen investieren viel mehr in diese Branche als die Öffentlichkeit. Viele Privatunternehmen unterstützen diese Innovation.

Auf der Website vom Bund kann ein Aktionsplan von 2019 bis 2020 eingesehen werden, – der Letzte, der veröffentlicht wurde – der viele interessante Massnahmen enthält. Es wäre jedoch auch interessant zu wissen, inwieweit diese Ziele erreicht wurden.

Was sind die aktuellen Herausforderungen in diesem Sektor?

Im Bereich der Telekommunikation sowie auch allgemein werden wir zunehmend mit der Datennutzung sowie -verwaltung konfrontiert. Wir sind in der Tat datengesteuert und bewegen uns auf eine Zukunft zu, in der immer mehr Daten zur Verbesserung unserer Dienstleistungen genutzt werden.

Das Gute ist, dass wir derzeit zu einer geregelten Nutzung und einem strukturierten Konsum übergehen. Die Analysealgorithmen sind weitaus fortgeschrittener und zudem wird endlich grossen Wert auf Sicherheit, Vertraulichkeit und Ethik gelegt, welche die Grundlage für die Datennutzung bilden.

Diese Daten werden nicht mehr von einzelnen, isolierten Plattformen bereitgestellt, sondern stammen aus verschiedenen Ökosystemen und werden übergreifend analysiert, um ein einwandfreies Nutzererlebnis zu gewährleisten. Daten werden auch gesammelt, um sie zu monetarisieren.

Die Prognosen der Algorithmen der künstlichen Intelligenz werden für das Marketing genutzt, aber auch, um der Kundschaft zu helfen, Störungen vorzubeugen und schneller zu beheben sowie einzigartige und massgeschneiderte Angebote zu unterbreiten.

Bis vor Kurzem haben wir über Kundengruppen wie Frauen, Männer, junge oder ältere Menschen gesprochen. Nun reden wir von Sektoren – jeder Kunde ist ein Sektor mit massgeschneiderten Dienstleistungen. Ausserhalb von Dienstleistungsunternehmen wird die Robotik in der Industrie entwickelt, um die Produktionseffizienz zu verbessern, aber auch um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu erhöhen. Fernsteuerungen und -bedienungen, selbstfahrende Fahrzeuge und Geräte sind weitere Beispiele für Algorithmen, die auf Datenanalysen beruhen. Daher sind Daten die wichtigste Herausforderung. 

Eine weitere Herausforderung für alle MINT-Fachleute besteht darin, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Um innovativ zu sein, muss man anders denken und den Status quo infrage stellen.

Schliesslich ist noch die Herausforderung der sogenannten vernetzten Dienste zu erwähnen: Informationen werden anderen Diensten zur Verfügung gestellt, um ein umfassendes Erlebnis zu schaffen.

Daher werden Allianzen und Partnerschaften zwischen verschiedenen Unternehmen gebildet, damit jedes seinen Beitrag zur Schaffung einer endgültigen Serviceplattform leisten kann. Man baut nicht alles neu auf, sondern nutzt Start-ups und Betriebe mit spezifischen Fähigkeiten, um eine Dienstleistung zu erstellen und anzubieten. Heute versetzen wir die Nutzer in die Lage, mithilfe der angebotenen Plattformen und Dienste ihr eigenes Unternehmen zu gründen und zu betreiben.

Im MINT-Bereich besteht unsere Herausforderung daher darin, Lösungen zu entwickeln, die für eine standardisierte Integration mit anderen externen Plattformen offen sind.

Oft ist von einem Arbeitskräftemangel in diesem Sektor die Rede. Warum?

Die Besetzung offener Stellen in diesem Sektor kann Monate dauern und die Nachfrage nach Arbeitskräften ist sehr hoch. In diesem Bereich reicht der Schweizer Pool nicht aus. Deshalb kommen viele hoch spezialisierte Arbeitskräfte aus dem Ausland.

Zudem gibt es leider noch zu wenige Student:innen in den MINT-Fachrichtungen. Ausserdem sind Berufswechsel und Neuorientierungen in den MINT-Bereich nicht einfach, vor allem, wenn man seine Fachkenntnisse nicht auf dem neuesten Stand gehalten hat, da der technologische Wandel enorm schnell voranschreitet.

Welche Fähigkeiten sind für die Arbeit in diesem Sektor erforderlich?

Man muss in der Lage sein, mit neuen Technologien mitzuhalten. Ideal ist eine Mischung aus technischen und administrativen Fähigkeiten. Wir bewegen uns schneller auf eine umfassende digitale Transformation zu, bei der die Grenzen zwischen Technologie und Wirtschaft immer mehr verwischen.

Die Fähigkeit zur Kommunikation ist dabei unerlässlich. Ein Techniker muss in der Lage sein, die Sprache der Wirtschaft zu sprechen sowie in nicht-technischer Sprache auszudrücken. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Sektor ist die Neugierde.

Und schliesslich sind Englischkenntnisse heute eine unabdingbare Voraussetzung für die Arbeit im MINT-Bereich.

Welche Rolle spielen dabei Frauen?

Die geschlechtsspezifische Diskrepanz ist im MINT-Sektor immer noch sehr ausgeprägt, obwohl viele Frauen in angesehenen Berufen hervorragende Ergebnisse erzielt haben. Leider scheinen sich nur wenige Mädchen für technische Themen zu begeistern.

Es ist schwierig, inmitten der Vorurteile eines immer noch sehr männerdominierten Umfelds an einen beruflichen Aufstieg zu denken. Ausserdem ist es nicht einfach, eine Balance zwischen der Notwendigkeit auf dem Laufenden zu bleiben, lange Arbeitszeiten und dem Familienleben zu finden.

Es ist nicht leicht, als Frau im Technologiebereich zu arbeiten und das hohe Arbeitstempo aufrechtzuerhalten. Einmal habe ich zum Beispiel meine Kinder im Kindergarten vergessen (lacht), aber jetzt bin ich stolz auf mich und darauf, was ich erreicht habe, auf meine Kinder und ihre Erfolge.

Wie sehen Sie die Zukunft dieses Sektors in der Schweiz?

Ich glaube, dass die Entwicklung des MINT-Sektors nicht nur konstant bleiben, sondern sich beschleunigen wird. Wir werden vermehrt zu personalisierten Dienstleistungen übergehen. Robotik und Automatisierung werden stark zunehmen.

Ich denke, dass allen der Zugang zu mehr Technologie und Dienste und deren Nutzung ermöglicht wird. Zudem hoffe ich, dass auch die ländlichsten Gebiete von der Digitalisierung profitieren können.

Des Weiteren erwarte ich, dass diese Technologiewelle durch Daten, Blockchain, das Metaverse, virtuelle Realität, Bitcoin uns viele weitere Möglichkeiten bieten wird: die Art und Weise zu optimieren, wie wir leben und uns einzigartig fühlen.

Meiner Meinung nach wird es stets weitere Herausforderungen und Chancen geben, sich zu verbessern. Ich möchte daher, dass die Technologie unser Leben vereinfacht und gleichzeitig zur Nachhaltigkeit unseres Planeten beiträgt.

Der derzeitige Zustand ist teilweise das Ergebnis industrieller Revolutionen. Industrie und Technologie sind verpflichtet, sich auf eine nachhaltige Zukunft vorzubereiten.

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29.06.2022
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