Mein aussergewöhnlicher Job

Im Gespräch mit einem forensischen Psychiater

05.07.2022
von Akvile Arlauskaite

«Man kommt nicht als Schwerverbrecher:in auf die Welt», stellt Prof. Dr. med. Marc Graf nach mehr als 500 erstellten strafrechtlichen Gutachten fest. Der forensische Psychiater, Professor, Direktor und Leiter der Klinik für Forensik spricht über Herausforderungen und die schönen Seiten seines Berufs.

Prof. Dr. med. Marc Graf, forensische Psychiater, Professor, Direktor und Leiter der Klinik für Forensik

Prof. Dr. med. Marc Graf, forensischer Psychiater, Professor, Direktor und Leiter der Klinik für Forensik

Prof. Dr. med. Marc Graf, wann ist bei Ihnen das Interesse für die Psychiatrie aufgekommen?

Ich wollte schon immer Psychiater werden. Ich bin in der Nähe einer psychiatrischen Klinik aufgewachsen, wo die Patient:innen, damals in den Siebzigern, komplett weggesperrt wurden. Das hat mich beelendet; und so begann ich mich dafür zu interessieren, warum diese Menschen so sind, wie sie sind. Ausserdem hatte ich schon als Kind den Eindruck, dass wir Menschen nicht sehr kompetent miteinander umgehen und dass unser Elend im Kleinen liegt. Ich wollte mehr darüber erfahren und war deshalb nicht nur von der Psychiatrie, sondern auch von der Medizin fasziniert.

So entschieden Sie sich für ein Medizinstudium, gingen dann aber in die Chirurgie und wechselten erst später in die forensische Psychiatrie. Weshalb?

Im Medizinstudium waren die Psychiatrievorlesungen katastrophal. Die Dozierenden bedienten sich negativer Klischees und führten die Patient:innen wie wilde Tiere vor. Das hat mich abgeschreckt und ich beschloss, als Assistenzarzt in die Chirurgie zu gehen. Obwohl mich das Fach extrem faszinierte und ich sehr viel gelernt habe, stellte ich schnell fest, dass für mich der Mensch dahinter zu kurz kommt. Kurz vor dem Facharzttitel stieg ich daher auf die forensische Psychiatrie um.

Womit sind forensische Psychiater:innen in ihrem Arbeitsalltag beschäftigt?

In der forensischen Psychiatrie gibt es verschiedene Tätigkeitsfelder. Ein Teil davon umfasst Begutachtungen: Im Rahmen einer Straftat studiert man zahlreiche Akten – Gutachten, Therapieberichte, Zeugen- und Opferaussagen – sowie Fachliteratur und untersucht über mehrere Tage hinweg eine angeschuldigte Person im Gefängnis. Im Anschluss stellt man im schriftlichen Gutachten allfällig vorliegende Diagnosen dar, nimmt eine Risikoeinschätzung vor und gibt Empfehlungen für nachfolgende Massnahmen ab. Daraufhin kann man als sachverständiger Zeuge vor Gericht geladen werden. Diejenigen, die zusätzlich oder ausschliesslich in der Behandlung tätig sind, führen mit ihren Patient:innen Therapiesitzungen durch, entweder in einer Klinik oder im Gefängnis.

Wenn man sich für Menschen interessiert, ist die forensische Psychiatrie eine der spannendsten Tätigkeiten, die man ausüben kann.

Welche Fähigkeiten müssen forensische Psychiater:innen unbedingt mitbringen?

Ganz wichtig ist ein strukturiertes Denken und ein fachliches Programm – man sollte die entsprechende Methodik und die Therapiestandards konsequent leben. Ausserdem muss man in der Lage sein, sich in die ganz andere Denkweise des Rechts so weit einzufinden, dass man die Fragen der Rechtsanwendenden auf eine für sie verständliche Weise beantworten kann. Ein klares Rollenverständnis ist ebenfalls sehr wichtig. Forensische Psychiater:innen sind Gehilfen des Gerichts, die ihr Wissen zur Verfügung stellen, jedoch nicht das Urteil fällen.

Forensische Psychiater:innen arbeiten mit Personen, die schwere, gesellschaftlich verwerfliche Straftaten begangen haben. Welche Gefühle kommen bei Ihnen dabei auf?

Es kann belastend sein, sich mit solchen Taten auseinanderzusetzen. Bei psychopathischen oder anderweitig unangenehmen Menschen kann ein Unwohlsein aufkommen. Es gab auch schon Situationen, in denen ich mich nicht mehr sicher gefühlt habe und Angst empfand. Ekel habe ich hingegen noch nie verspürt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch mich anekelt.

 Wie managen Sie negative Empfindungen?

Wichtig ist, dass man diese Gefühle gut monitorisiert, reflektiert, und dann damit umgeht. Es ist dabei zentral, sich auf den Kern der Person zu konzentrieren: Was für eine Art von Mensch ist sie und weshalb hat sie so gehandelt? Man kommt ja nicht als pädophiler Sadist auf die Welt. Konkret sollte man sich bemühen, Hypothesen zu entwickeln und persönliche sowie situative Faktoren zu ermitteln, die zu der Tat geführt haben, statt zu versuchen, die Welt faustisch zu erklären.

Fürchten Sie den Tag, an dem eine Person, deren Entlassung Sie befürworteten, erneut eine schlimme Tat begeht? Oder dass eine, die Sie positiv begutachtet haben, rückfällig wird?

Natürlich, ja.

Wie gehen Sie damit um?

Mit dem Bewusstsein, dass wir den Patient:innen ganz allgemein in der Medizin nicht die Heilung schulden, sondern die bestmögliche Behandlung nach aktuellen Standards. Das Gleiche gilt für die Begutachtung. Wenn man sich bei seiner Arbeit an die Leitlinien und Standards hält und nach bestem Wissen und Gewissen handelt, dann ist es kein Fehler seitens der oder des Psychiater:in, auch wenn dann allenfalls jemand wieder trotz günstiger Prognose eine Straftat begeht.

Es ist zentral, sich auf den Kern der Person zu konzentrieren.

Welchen weiteren Herausforderungen begegnen Menschen in diesem Berufsfeld in ihrem Alltag?

In erster Linie ist es der menschliche Aspekt. Wir müssen uns auf die Person einlassen – auch auf der emotionalen Ebene –, um verstehen zu können, was sie getan hat und warum. Das kann einem sehr nahe gehen und birgt das Risiko späterer Intrusionen. Es ist deshalb wichtig, Grenzen zu setzen und eine gesunde Psychohygiene zu betreiben.

Zusätzliche Belastungen können sich aus der Bedrohung der eigenen Integrität ergeben, zum Beispiel durch Übergriffe von Patient:innen, aber auch durch Drohungen von Angehörigen oder die Exposition in den Medien. Darüber hinaus haben viele forensische Psychiater:innen leidige Erfahrungen mit wiederholten Strafanzeigen gemacht. Auch ich musste mich schon vor Gericht verantworten, weil ich beschuldigt wurde, eine falsche Begutachtung erstellt zu haben.

Sie erwähnen die Bedeutung der Psychohygiene. Was braucht es in diesem Sinne, um mit der psychischen Belastung im Beruf umgehen zu können?

Hier sind mehrere Faktoren entscheidend. Erstens ein guter fachlicher Hintergrund. Je besser man etwas versteht und es professionell erklären kann, desto weniger diffus und bedrohlich wirkt es. In diesem Sinne sind auch die Möglichkeiten der Supervision und Intervision entscheidend. Zudem ist ein gutes Gespür von Interdisziplinarität wichtig, damit man mit allen Berufsgruppen, die näher an den Patient:innen sind und diese auf gewisse Weisen besser verstehen, kooperieren kann.

Zweitens muss man gut in der Normalität verankert sein und der Job sollte, wie jeder andere auch, nicht 90 Prozent des Lebens ausmachen.

Drittens muss man bestimmte Persönlichkeitsfaktoren mitbringen. Es braucht Selbstreflexion und Bescheidenheit, ein gewisses Mass an Ausgeglichenheit und Robustheit, aber auch Einfühlungsvermögen und genuines Interesse an der anderen Person.

Welche Aspekte sind Ihnen im Umgang mit Patient:innen besonders wichtig?

Dass eine Begutachtung letztlich eine positive Erfahrung für den Menschen ist. Forensische Psychiater:innen sollten den Patient:innen helfen, sich selbst besser zu verstehen. Ein aufrichtiger, authentischer und interessierter statt belehrender oder arroganter Umgang unterstützt sie bei der persönlichen Weiterentwicklung – das Kernanliegen der Psychiatrie und Psychotherapie.

Forensische Psychiater:innen sollten den Patient:innen helfen, sich selbst besser zu verstehen.

Was fasziniert Sie an der Arbeit als forensischer Psychiater?

Ich werde dieses Jahr 60 Jahre alt und kann sagen, dass ich meinen Beruf immer noch extrem gerne mache. Wenn man sich für Menschen interessiert, ist die forensische Psychiatrie eine der spannendsten Tätigkeiten, die man ausüben kann. Denn sie bietet einem die einmalige Gelegenheit, eine andere Person in einer kurzen Zeit in grosser Tiefe kennenzulernen. Dabei befindet man sich an der Schnittstelle zwischen dem Menschen und modernen psychiatrischen, psychologischen sowie neurowissenschaftlichen Erkenntnissen.

Darüber hinaus ist es eine sehr verantwortungsvolle, aber auch sinnstiftende und wirksame Tätigkeit. Durch die Erstellung von Gutachten trägt man dazu bei, Straftaten aufzuklären und weitere zu verhindern. Und durch die Behandlung hilft man einem Teil der Täter:innen, sich zu resozialisieren sowie jene zu identifizieren, die ein zu grosses gesellschaftliches Risiko darstellen und verwahrt werden sollten. In dieser Hinsicht tragen forensische Psychiater:innen dazu bei, dass es in Zukunft weniger Opfer gibt.

Eine Antwort zu “Im Gespräch mit einem forensischen Psychiater”

  1. Andres Zaugg sagt:

    Gläubige forensische Psychiater die religionskritische Patienten begutachten sind nicht glaubwürdig (siehe Radovan Karadzic)

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